Bewegungsstudien

Post.human? @ Exhibition Lab, 2022.


Als Frank B. Gilbreth seine Motion Study 1911 in den Vereinigten Staaten und 1921 als Bewegungsstudien – Vorschläge zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Arbeiters in Deutschland veröffentlichte, konnte er sich bestimmt nicht vorstellen, dass diese knapp siebzig Jahre später den sogenannten Bodybuilding Techniques eines Joe Weiders und folgend einer ganzen Fitnessbewegung als Nährboden diente.[1]

Doch beginnen wir zuerst mit Gilbreth – dieser begreift den Menschen als Bestandteil einer Maschinerie, die es zu analysieren und zu optimieren gilt. Gilbreth produzierte zu seinen Studien über achtzigtausend Meter 35mm Filmmaterial.[2] Exemplarisch am Maurerhandwerk erklärt Gilbreth seine Methode: «Alles in allem läuft das Gilbrethsche Maurersystem auf grosse Spezialisierung der Arbeit hinaus. Der Mann, der die Ziegel verliest, hat nichts anderes zu tun als Ziegel zu verlesen».[3] Bedenken an seinem System führt Gilbreth auf mangelndes Vorstellungsvormögen seiner Mitmenschen zurück – implizit erkennt er die inhärente Gefahr seiner neuen Arbeitsmethodik: «Viele können sich wohl auch nicht vergegenwärtigen, was es heisst, mit jeder Bewegung hauszuhalten, oder auch sie fürchten diesen Gedanken als ein neues Mittel zur Aussaugung des Menschen und zur Umwandlung seiner innersten Seelenkräfte in brutale äusserliche Energie».[4] Spezialisierung bedingt Wiederholung «[...] und die so oft wiederholte Bewegung erreicht mit der Zeit den Punkt höchster Vollkommenheit».[5] Der Philosoph Gerhard Gamm schreibt in der Publikation Anthropotechniken im Sport – Lebenssteigerung durch Leistungsoptimierung im Kapitel Die Schönheit der Wiederholung – Im Sport und in der Kunst: «Die Götter lieben den Wechsel, die Menschen die Wiederholung. Da die Menschen aber partout nicht vom Privilegium der Götter ablassen wollten, erfanden sie die Serie».[6]

Joe Weiders serielle Körperertüchtigung nennt er selbst Split-system. In diesem System werden klar separierte Muskelgruppen oder sogar einzelne Muskelstränge mittels progressiven Widerstandstraining zur Muskelhypertrophie angeregt. In dieser rigiden Zergliederung des Körpers sieht auch der Sportsoziologe Mischa Kläber «eine Parallele zu dem nach seinem Erfinder [..] benannten ‹Taylorismus›».[7]

Nochmals zurück zum Filmmaterial von Gilbreth über das Maurerhandwerk – auf diesen Aufnahmen sind neben den Arbeitern noch weitere Personen erkennbar – nämlich die Manager.[8] Wir erinnern uns an den Roman American Psycho von Bret Easton Ellis und dessen hervorragende Verfilmung von Mary Harron mit Christian Bale als Patrick Bateman in der Hauptrolle.[9] In dieser stellt Bale Bateman als ein nach Leistungsfähigkeit optimiertes Wesen dar, was letztlich in seiner vermeintlich erreichten Perfektionierung den Bezug zu einer irgendwie noch human gearteten Realität komplett verliert – und in extreme Gewalt- und Sexphantasien abdriftet. Jörg Scheller schreibt pointiert über diesen Typus: «Der manische, rastlose, promiskuitive  und sexsüchtige Egomane huldigt dem gesunden menschlichen Körper wie einem Gott, das nackte Leben wird für ihn zum Gottesdienst. Sex, business, power, health, happiness – das sind die neuen Fetische, die [er] [...] anbetet».[10] For Health and happiness lautet bereits 1941 der Titel einer Dokumentation der Cornell University zum Thema Ernährung.[11] Gesundheit gleich Glück – wie die meisten machtvollen Phrasen, so schreibt Sandel, «[...] vermengt es das Streben mit der Tatsachenbehauptung; die Hoffnung wird zur Realität».[12] Und so kann auch, erkennt Martschukat richtig, «[...] das Wissen um die Gestaltbarkeit des Körpers [...] von einer Befreiung zu einer Anforderung werden».[13]

Gemäss dem Prinzip der teilnehmenden Beobachtung[14] begibt sich der Autor selbst in einen ‹Optimierungsprozess› und dokumentiert diesen in verschiedenen Medien mit der Intention, diese Gegenstände in einem künstlerischen Kontext zu verhandeln. Als Beispiel soll hier ein sogenanntes Lauftuning dienen, welches aus einer Laufanalyse und einer Fussdruckmessung besteht.[15] Diese Auswertung resultiert folgend in entsprechenden Trainingsempfehlungen zur Laufoptimierung. In der Gegenüberstellung zu einem Arbeitsablauf aus den Motion Studies von Gilbreth fragt sich der Autor: Wieso empfinden wir das Fliessband als langweilig – das Laufband jedoch nicht? Könnte es sein, dass sich der Mensch als Teil einer Maschine eigentlich ganz wohl fühlt?[16]


David Herren, 2022


https://davidherren.ch
https://exhibitionlab.ch
https://posthumanclash.ch

Literatur

Baur, Nina; Blasius, Jörg (Hg.) (2019): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer.

Bockrath, Franz (Hg.) (2012): Anthropotechniken im Sport. Lebenssteigerung durch Leistungsoptimierung?. Bielefeld: Transcript (Körperkulturen).

Boes, Stefan; Kaufmann, Cornel; Marti, Joachim (2016): Sozioökonomische und kulturelle Ungleichheiten im Gesundheitsverhalten der Schweizer Bevölkerung. Neuchatêl: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan).

Ellis, Bret Easton (1991): American Psycho. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Gilbreth, Frank Bunker (1921): Bewegungsstudien. Vorschläge zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Arbeiters (Freie deutsche Bearbeitung von Dr. Colin Ross). Berlin, Heidelberg: Springer.

Gilbreth, Frank Bunker (1945): Original Films of Frank and Lillian Gilbreth. USA: Chicago Chapter of the Society for the Advancement of Management. https://archive.org/details/original-films-of-frank-b-gilbreth-1945 (abgerufen am 04.05.2022).

Harron, Mary (2000): American Psycho. USA, Kananda: Edward R. Pressman, Chris Hanley und Christian Halsey Solomon.

Kläber, Mischa (2013): Moderner Muskelkult. Zur Sozialgeschichte des Bodybuildings. Bielefeld: Transcript.

Martschukat, Jürgen (2019): Das Zeitalter der Fitness. Wie der Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wurde. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Monsch, Helen (1941): For Health and Happiness. USA: Cornell University. https://www.loc.gov/item/mbrs01840194 (abgerufen am 04.05.2022).

Sandel, Michael J. (2020): Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Scheller, Jörg (2010): No Sports! Zur Ästhetik des Bodybuildings. Stuttgart: Franz Steiner.

Weider, Joe (1989): Joe Weider's Ultimate Bodybuilding: The Master Blaster's Principles of Training and Nutrition. New York: McGraw-Hill Professional.


Einzelnachweise

[1] Vgl. Gilbreth 1921; Vgl. Weider 1989. Frank Bunker Gilbreth (*7. Juli 1868 in Fairfield, US; †14. Juni 1924 in Montclair, US) gilt neben Frederick Winslow Taylor als einer der Mitbegründer der Unternehmensphilosophie, die von ihren Befürwortern als Scientific Management, oder in einer eher kritischen Sichtweise als Taylorismus bezeichnet wird. Josef Edwin ‹Joe› Weider (*29. November 1919 in Montreal, CA; †23. März 2013 in Los Angeles, US) war ein kanadischer Unternehmer, Bodybuilder und Pionier des Kraftsports.

[2] Vgl. Gilbreth 1945, 00:00:24.

[3] Vgl. Ebd., 00:02:28.; Gilbreth 1921, S. 3.

[4] Gilbreth 1921, S. 4.

[5] Ebd., S. 3.

[6] Bockrath 2012, S. 87.

[7] Kläber 2013, S. 19.

[8] Vgl. Gilbreth 1945, 00:02:49. Siehe Abb. 3.

[9] Vgl. Harron 2000; Vgl. Ellis 1991. Siehe Abb. 1.

[10] Scheller 2010, S. 165.

[11] Vgl. Monsch 1941.

[12] Sandel 2020, S. 128. Das Zitat von Sandel bezieht sich im Original auf sozialen Aufstieg durch eigene Arbeit. Hier wird es aus dem Kontext verwendet, ich finde es jedoch trotzdem passend, da Gesundheit nicht primär dem eigenen Verhalten geschuldet ist, genauso wenig, wie sozialer Auf- oder Abstieg allein dem eigenen Handlungsvermögen unterliegt. Vgl. Boes et al. 2016.

[13] Martschukat 2019, S. 53.

[14] Vgl. Baur und Blasius 2019, S. 607. Teilnehmende Beobachtung: Das ‹Beobachten› ist dabei kein passiver Vorgang, der sich auf die blosse Sehwahrnehmung beschränkt. Die Beobachtung gilt vielmehr deshalb als ‹teilnehmend›, weil sich ethnographisch Forschende in das Feld der Beforschten begeben und sich dort an den sozialen, ablaufenden Situationen beteiligen. Dabei wird nicht nur beobachtet, sondern auch zugehört und mitgemacht, sodass die Forschenden selbst zum Forschungsinstrument werden, die sich mit ihrem ganzen Körper den Situationen aussetzen, (mit-)fühlen und sich (mehr oder weniger) beteiligen.

[15] Siehe Abb. 4 und Abb. 5. Die Fussdruckmessung (Podometrie) zeigt die genaue Belastungsverteilung an der Fusssohle.

[16] Siehe Abb. 2 und Abb. 4. Dem Autor ist bewusst, dass freiwillig eine Stunde auf dem Laufband nicht das Gleiche ist, wie 42 Stunden in der Woche für Erwerbsarbeit am Fliessband zu stehen.


Abbildung 1: American Psycho, 2000.


Abbildung 2: Motion Study, 1921.


Abbildung 3: The Manager, 1921.


Abbildung 4: Lauftuning, 2020.


Abbildung 5: Fussdruckmessung, 2020.